Sie hat nur einen Dollar gekostet, und wer das – nun ja – Gerümpel in der Fleiterwerkstatt herumliegen sieht, würde wohl auch dankend abwinken; aber eine Kirchengemeinde in Hanau will dafür 300 000 Euro lockermachen. Der Laie sieht Dutzende alte Hölzchen, zugestaubte Kabelverbindungen, rissige Lederbälge, abgeblätterte Farbe, Klingeln, Tuten und angelaufene Metallröhren und wundert sich: Das soll mal eine Orgel gewesen sein und Ostern wieder Kirchenlieder begleiten? Da muss der Fachmann, Orgelbaumeister Stefan Linke, selbstsicher schmunzeln: „Ja doch, wir können alles!“
Eng ist es in der Werkstatt des 1872 gegründeten Orgelbau-Unternehmens Fleiter in Nienberge, und es ist ja auch nur ein Behelf; denn die hauseigene, viermal so große Werkstatt, ein paar hundert Meter ums Eck, ist im Januar völlig ausgebrannt. Die halbe Belegschaft der derzeit zehn Fleiter-Mitarbeiter arbeitet an dieser sehr besonderen Orgel, die der Pfarrer der Wallonisch-Niederländischen Kirche in Hanau, Torben W. Telder, für einen symbolischen Dollar in South Bend in Indiana/USA gekauft hat. Die Peter-Pfeifenorgel der Gemeinde sei in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch die andauernde Hitze im Sommer, in einem Zustand, der eine Renovierung als wirtschaftlich nicht sinnvoll erscheinen lasse, habe ein Orgelsachverständiger festgestellt. Der Pfarrer schlug nun vor, sie durch die Ein-Dollar-Kino-Orgel aus dem Colfax Theatre, eine dreimanualige Wurlitzer Balaban aus dem Jahr 1928, zu ersetzen.
Kino-Orgeln gaben früher in Lichtspielhäusern den Stummfilmen eine Klangkulisse, mit allem Tschingderassabumm. Eine Kino-Orgel ist aber zunächst eine seriöse Pfeifenorgel, mit der man ganz traditionell den Bedarf einer liturgischen Gestaltung abdecken kann. Darüber hinaus gibt es aber auch Effekte wie eine Autohupe oder eine Türschelle, die man weniger im Gottesdienst benutzen würde. Aber es gibt auch viele andere Klangbausteine, Effektregister und Instrumente, die sich durchaus einbetten lassen, zum Beispiel ein Glockenspiel oder ein Schlagzeug, Zimbeln und Trommeln. Das kann Vorteile für moderne Kirchenmusik haben. „Aber ja“, sagt Gregor Schwarz, Organist der Lemgoer Heilig-Geist-Kirche, für die Fleiter voriges Jahr eine Wurlitzer-Kino-Orgel restauriert hat, „ich bin schon oft gefragt worden, ob so eine Orgel auch fromm genug ist für eine christliche Kirche. Aber mit der Zeit wurde klar, wie groß das Interesse auch außerhalb des kirchlichen inner circle ist. Deshalb glaube ich, dass wir der Kirche hier etwas Gutes tun, indem wir einladend allen Menschen gegenüber sind und auch denen ein Angebot machen, die normalerweise nicht kommen.“
Zurück in die Behelfswerkstatt in Nienberge, wo Stefan Linke den Fortgang der Restaurierung erläutert, in Orgelpfeifen bläst, elektronische Kontakte, Ventile und Messingdraht überprüft, die stummfilm-typischen Klangwerke testet und vergoldete Verzierungen begutachtet, die später auf das Orgelgehäuse geklebt werden. Und die noch gar nicht gestellte Frage des Besuchers beantwortet: „Wir sind mittlerweile europaweit die führenden Fachleute für Kinoorgeln, aber natürlich sind Kirchen noch immer unsere Hauptarbeitgeber.“ Und das rechnet sich auch heute noch angesichts massiver Kirchenaustritte und folglich Kirchenschließungen? Stefan Linke: „Unsere Aufträge sind die nächsten zwei, drei Jahre gesichert.“ Natürlich stehe der Orgelneubau nicht mehr an allererster Stelle, aber Wartung, Reparatur, Ergänzung oder, wie demnächst in Telgte, das Umsetzen einer Orgel benötigen nach wie vor fachlich geschulte Experten. Linke schätzt, dass es in Deutschland noch etwa 250 Orgelbauer gibt, eine Zahl, die sich in naher Zukunft aber wohl halbieren werde. Ob man denn für diesen besonderen Beruf heute noch Nachwuchs findet? „Nun ja, wir bilden zwei Lehrlinge aus.“ Müssen die als als künftiger Orgelbauer denn auch Orgelspieler sein? „Nein“, lacht Stefan Linke, der mit Leib und Seele Orgelbauer ist, „ich selber kann da auch nur so´n bisschen rumdudeln; was man aber braucht, ist die Liebe zu handwerklicher Kunst und zur Musik.“ Eine Liebe, die eine ehrwürdige Barockorgel in einer Kathedrale wohl ebenso feurig entflammen kann wie eine Kino-Orgel aus dem Hause Wurlitzer. Von Hans Lüttmann
Quelle: Westfälische Nachrichten (Ausgabe: Freitag, 20. September 2024)